Ist Nelson Mandela ein moderner Stoiker?

Der römische Kaiser Mark Aurel ist einer der bekanntesten und meist gelesenen Vertreter der antiken Philosophie der Stoa. Es war bezeichnend für ihn, dass er seine Lebensphilosophie gelebt und nicht gepredigt hat. Erst nach seinem Tode sind seine Gedanken und Schriften zum Stoizismus bekannt geworden. Seine philosophischen Schriften sind Tagebücher, in denen er sich reflektiert und ermahnt ein guter Mensch zu sein.

Für einen Stoiker geht es nicht darum, ein Stoiker zu sein oder die Philosophie der Stoa zu verkünden und zu verbreiten, sondern darum, sie zu verkörpern. Dies geschieht indem man tugendhaft handelt. Tugend ist für die Stoiker das höchste Gut. Weise, mutig, gerecht und maßvoll zu handeln ist das Ziel des Stoikers.

Eine Gemeinsamkeit von Mark Aurel und Nelson Mandela, ist die Tatsache, dass sie zu Staatsoberhäuptern wurden, die für ihren Charakter und Tugenden bewundert werden. Der im Jahre 121 geborene Mark Aurel wurde mit 40 Jahren Kaiser des römischen Reiches und blieb dies bis zu seinem Tod im Jahre 180. Mark Aurel ist ein Adoptivkaiser, d.h. kein leiblicher Nachfahre des vorherigen Kaisers, Antoninus Pius. Aurel wurde von Antoninus Pius jahrelang auf die Rolle des Kaisers vorbereitet. Er hatte seine Ausbildung in der Philosophie der Stoa verinnerlicht und praktizierte die ihm vermittelten Werte und Tugenden. Er war somit gut vorbereitet für die schwierige Regentschaft, die ihm bevorstehen würde. Fast seine gesamte Zeit als Kaiser verbrachte Mark Aurel am nördlichen Ende des römischen Reichs, um dessen Grenzen zu verteidigen.

Wie Mark Aurel, wurde auch Nelson Mandela später in seinem Leben adoptiert. Im Alter von 9 Jahren starb Mandelas Vater und er wurde zum Adoptivsohn eines südafrikanischen Stammeshäuptlings. Er war der erste in seiner Familie, der eine schulische Ausbildung erhielt und später sogar Jura studierte. Seine nachhaltigste charakterliche Reifung fand jedoch nicht während der Vorbereitung auf eine politische Rolle statt. Mandela bildete seine berühmte Disziplin und Selbstkontrolle im Gefängnis aus. Anders als Aurel, der mit 40 Jahren auf den Thron berufen wurde, ist Mandela mit 46 Jahren zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Zu Beginn seiner Gefängniszeit war er noch ein wütender, hitzköpfiger, ungeduldiger und von sich selbst eingenommener Freiheitskämpfer. Aber schnell begriff er, dass er in einer solchen Gemütsverfassung die Zeit in Gefangenschaft nicht überstehen wird. Er war zudem immer noch der Kopf der südafrikanischen politischen Freiheitsbewegung ANC. Er musste also einen klaren Kopf bewahren und aus dem Gefängnis heraus den Kampf, so gut es ging, weiterführen.

Warum Mandela ein Stoiker ist

In der Philosophie der Stoa ist es wichtig, zu lernen zu unterscheiden zwischen den Dingen die in unserer Macht stehen und jenen, die es nicht sind. Mandela wusste, sein Durchhaltewillen, seine Würde und seine Disziplin kann ihm nicht genommen werden. Auch im Gefängnis besaß er noch gewissen Handlungsspielraum. Wie er mit den Wärtern umging, wie er für seine Mitgefangenen einstand und was er ihnen vorlebte, stand in seiner Macht. Auch hat er viel gelesen, um sich zu bilden und versucht, so gut wie möglich mit Menschen außerhalb des Gefängnisses zu kommunizieren. Ob und wann er freigelassen wird, das lag nicht in seiner direkten Macht. Was er nicht ändern konnte, hat er akzeptiert und die Dinge, die in seiner Macht lagen, hat er mit voller Energie in Angriff genommen- genau wie es die Stoiker empfehlen.

Mandela war sich, darüber hinaus, seiner Rolle als Vorbild bewusst. Die Selbstdisziplin, die er verkörperte, war für ihn ein Schlüssel zur Unabhängigkeit Südafrikas. Ganz Afrika bräuchte, so Mandela, Disziplin, um von der Unterdrückung unabhängig zu werden und ein stabiler Kontinent zu werden. Auch war ihm wichtig, genau wie Martin Luther King oder Mahatma Ghandi, rassistische Vorurteile zu widerlegen. Afrikanisch und indisch stämmigen Bevölkerungsteilen wurde vorgeworfen, sie seien zu undiszipliniert und unkontrolliert, um sich selbst regieren zu können.

Als Stoiker kann er gelten, da er die Tugenden gelebt hat und besonnen, weise und entschlossen seinen Weg ging. Insbesondere hat er nie eine Bitterkeit oder Ressentiments gegenüber der weißen, herrschenden Klasse, ausgedrückt. Er hat stets für ein höheres Ziel gekämpft, nämlich der Abschaffung der Apartheid und der Versöhnung der ethnischen Gruppen in Südafrika. Ein Stoiker ist derjenige, der nach stoischen Prinzipien lebt und nicht zwangsläufig jener, der sich als Stoiker bezeichnet.

Wir müssen von ganzem Herzen alles, was uns trifft, willkommen heißen, wir dürfen auch innerlich nicht murren, ja uns nicht einmal wundern. (Mark Aurel)