Stoizismus: “Lifehack” oder Lebensphilosophie?

Praktische Übungen des Stoizismus funktionieren auch unabhängig von der dahinterliegenden Philosophie. Aber warum ist es besser, sie nicht isoliert zu betreiben?

Bei Sonnenaufgang meditieren und sich dabei bewusst machen, wie klein die eigene Existenz im Universum doch ist. Eine Übung dieser Art könnte von einem Buddhisten, Christen, New Age Guru oder vom Yoga Lehrer stammen. In diesem Fall ist es der römische Kaiser und Stoiker Mark Aurel, der die Übung vor 2000 Jahren praktizierte.

In der Philosophie der Stoa gibt es viele Übungen, die dazu dienen sollen, das tugendhafte Handeln einzuprägen. Diese Übungen kann man in der heutigen Zeit auch als Lebenskniffe bzw. Lifehacks bezeichnen, d.h. Werkzeuge, die uns helfen, ein Problem zu lösen. Etliche dieser Übungen, wie etwa sich aufs Hier und Jetzt (“hic et nunc”) zu konzentrieren, indem wir die Vergänglichkeit der Dinge reflektieren, helfen dabei, Ängste abzubauen und bewusster zu leben. Stoizismus ist jedoch mehr als bloß ein Werkzeug für mehr Gelassenheit und Achtsamkeit. Wer Aspekte des Stoizismus als Lifehacks verwendet und über andere Grundprinzipien hinweg sieht, der ist weit entfernt davon, Stoizismus wirklich zu praktizieren. Wer 80 Stunden pro Woche im Startup arbeitet, seine Gesundheit und Familie vernachlässigt, dem mag der Stoizismus die Angst vorm Scheitern seines Unternehmens lindern. Aber gleichzeitig missachtet er einer der Kardinaltugenden des Stoizismus: Mäßigung. Wer Stoizismus leben will, muss alle vier Kardinaltugenden versuchen zu beherzigen: Weisheit, Mut, Gerechtigkeit und Mäßigung.

Man könnte einen Vergleich zu Ernährungstipps ziehen. Ratschläge zur Ernährung können, auch wenn sie eigentlich gut sind, ohne das notwendige Hintergrundwissen ihre Wirkung verfehlen. “Avocados sind gesund!” Das stimmt. Wer sich nach Erhalt des Ratschlags jedoch ausschließlich von Avocados ernährt, tut seiner Gesundheit nichts Gutes. Zugegeben, ein extremes Beispiel, aber es illustriert folgenden Punkt: Wer ein großes, ganzheitliches Wissen um Ernährung und den menschlichen Körper und dessen Stoffwechsel hat, weiß Ernährungstipps besser einzuschätzen.

There’s a danger that if you just use the tools and are detached from the general philosophy, you could end up misusing the tools. […] By not getting the full picture, you might end up worse off than you were before. (Massimo Pigliucci)

Genauso verhält es sich mit stoischen Übungen. Wenn man sie isoliert praktiziert, können sie ihr Ziel verfehlen. Nehmen wir die Übung “praemeditatio malorum” (“Vorherbedenken zukünftiger Übel”), wo man z.B. überlegt, was bei zukünftigen Handlungen alles schief gehen kann. Eine Übung durch die man sich auf verschiedene Situationen einstellt und Problemlösungsstrategien durchspielt. Wenn richtig betrieben, ist sie angstlösend und verhilft zu mehr Achtsamkeit. Wer sich jedoch in extrem negative Zukunftsszenarien hineinsteigert, schadet sich dadurch.

Zu guter Letzt gibt es einen weiteren Grund, sich mit einer Lebensphilosophie, wie dem Stoizismus, in seiner Gänze zu beschäftigen. Wer sich der Philosophie des Stoizismus annimmt und dessen Prinzipien und Weltanschauung für sein Leben übernimmt, der profitiert auch mehr von den Übungen. Die Übungen im Kontext der Philosophie zu sehen ist nachhaltiger, als eine Liste von Übungen abzuarbeiten. Wer von der Verbundenheit der Menschen untereinander, deren Verantwortung füreinander und der Idee, das Tugend das höchste Gut ist, überzeugt ist, der kann z.B. auch im Alltag besser mit schwierigen Menschen umgehen, als wenn er schlicht kurz innehält und durchatmet, damit er sich nicht aufregt.