Robben Island ist überall – Vom Wert schlechter Erfahrungen

Die Buddenbrooks und das Worst Case Szenario

Und wenn es kommt, das Gute und Erwünschte, schwerfällig und verspätet, so kommt es, behaftet mit allem kleinlichen, störenden, ärgerlichen Beiwerk, allem Staube der Wirklichkeit, mit dem man in der Phantasie nicht gerechnet hat. (Thomas Mann: Buddenbrooks)

Auf dem Höhepunkt seines Strebens gerät das Leben von Senator Thomas Buddenbrook außer Kontrolle. „Was ist Erfolg?“, räsoniert der Senator: „Der Glaube an die Gefügigkeit des Lebens zu meinen Gunsten“, beantwortet er sich die Frage selbst[1]. Bevor der Senator diesen Trugschluss bemerkt, hat er nicht nur sich selbst, sondern seine ganze Familie zugrundegerichtet. Sicher hat Buddenbrook mehrere Fehler begangen, deren Koinzidenz erst die Tragödie der Kaufmannsfamilie komplettiert. Eins aber ist klar: Das Leben ist selten zur eigenen Gunst gefügig, und wenn, sollte man gewiss darauf nicht bauen. Ganz im Gegenteil, so der Stoiker Epiktet: Erst die Wahrnehmung des Lebens als eine sich eher ungefügig gebende Abfolge von unsteuerbaren Zufällen setzt den Stoiker in die Lage, die geistige Herrschaft darüber zu erlangen. 

Vorherbedenken zukünftiger Übel

Wie kann man nun eine Tragödie Buddenbrookschen Ausmaßes vermeiden? Für Epiktet bedeutet das Studium der Philosophie der Stoa vor allem eines: Sich auf zukünftige Ereignisse vorzubereiten. Am prägnantesten hat es der Stoiker Seneca mit der auf ihn zurückgehenden Übung „praemeditatio malorum“ – das Vorherbedenken zukünftiger Übel, auf den Punkt gebracht. Einigen auch besser unter der englischen Bezeichnung „premeditation of adversity“ bekannt. Und das geht so: Wenn ich heute Abend einkaufen gehe, wäre ein denkbarer Ablauf der, dass der Wein, den ich kaufen wollte, aus dem Sortiment genommen wurde. Außerdem gibt es keinen Koriander. An der Kasse stehe ich gefühlt eine halbe Stunde an, weil eine kurzsichtige Oma mühsam ihre Münzen aus der Brieftasche klaubt, während der Säugling hinter mir im Kinderwagen ohne Unterbrechung wie am Spieß brüllt. Beim Bezahlen fällt mir der Ausweis auf dem Boden und am Ausgang merke ich, dass das Fahrrad, mit dem man gekommen ist, einen Platten hat. Solche Entwertungsgeschichten gibt es auch über längere Zeiträume. Beliebt ist diese: Job weg, Frau weg, Freunde weg, Haus weg – das ist sozusagen, zusammengefasst die Kurzversion der Buddenbrooks: Nicht nur ein Einkaufserlebnis kann suboptimal ausfallen, auch das ganze Leben kann man sich in den schwärzesten Tönen ausmalen. Einer der Effekte dabei ist: Die ausgedachten Pechvogelgeschichten entbehren nicht einer gewissen Komik.

Der griechische Tragödiendichter Pratinas von Phleius erfand 502 v. Chr. das Satyrspiel, bei dem die tragische Handlung durch komisch und gleichsam tragisch auftretende Waldwesen kommentiert wurde. Die Satyrn symbolisieren das Gegenteil des tugendhaften Polisbewohners: Sie sind kindisch, naiv, launig, ungeschickt, nichtsnutzig, gedankenlos, unzuverlässig, diebisch, trunksüchtig, geil, ängstlich, prahlerisch und feige[2]. Die Satyrn waren schrecklich und komisch zugleich, wobei die Komik nicht selten aus den Fehlschlägen resultierte, etwa wenn die Satyrn schönen Nymphen hinterherjagten – um am Ende wieder mal leer auszugehen. Genau dieser Situationskomik bedient sich auch Epiktet, wenn der Stoiker dazu auffordert, sich bevorstehende Ereignisse mit allerlei Katastrophenbeiwerk vorzustellen. Die Ereignisse wirken dann, wenn sie mit hoffentlich geringeren und weniger gravierenden Katastrophen eintreten, weniger berauschend und man hat einen klareren Kopf, die wirklichen Probleme anzugehen.  

Sich zwischenzeitlich zur Askese bekennen

Doch es wäre zu kurz gegriffen, anzunehmen, Epiktet hätte die Komik zur Philosophie erhoben, um sich lachend immer wieder neue skurrile Wendungen seiner Zukunft auszudenken. Er forderte vielmehr, sich zwischenzeitlich zur Askese zu bekennen, um den – mehr oder weniger zwangsläufig – angesammelten Ruhm, Macht und Wohlstand etwas mehr in den Hintergrund treten zu lassen und sich im Geiste davon zu befreien. Im Geiste, versteht sich, denn eine reale Befreiung davon widerspräche der Tugend der Klugheit. Dennoch: Ein eingelegter Fastentag oder eine auf dem harten Holzboden verbrachte Nacht kann oftmals helfen, wieder auf den Pfad der stoischen Tugend zurückzukehren und die Augen für das innere Ich zu öffnen.

Während die ausgedachten Vorbehaltsklauseln zu konstruiert wirken könnten und der Zwang zur temporären Askese größere Überwindung kostet (wenn er nicht gar gänzlich im und Alltag scheitert), gibt es noch eine weitere wichtige Fundgrube, derer sich der Stoiker bedienen kann; Es sind die eigenen Erfahrungen, die man gemacht hat, besonders die schlechten. Je nach gewonnenem Lebensalter gibt es derer – leider – oder zum Glück – zahlreich. Eine wahre Fundgrube dafür ist meine Militärzeit: Habe ich mal wieder den Bus verpasst und der nächste fährt erst in einer Stunde: Wen kümmerts? Als Soldat stand ich mehrere Stunden im Morgengrauen Wache und hatte kein Smartphone zur Ablenkung. Ein Kollege fährt mich eine Spur zu hart an? Kleinigkeit: Bei der Armee wurde ich 24 Stunden am Tag zusammengebrüllt, mal mit, mal ohne Grund. Der Koffer wird am Bahnhof immer schwer und der Weg nimmt kein Ende? Kein Vergleich: In Uniform bin ich das Zehnfache mit doppelt so schwerem Gepäck gelaufen. In keiner Zeit meines Lebens manövrierte ich mich durch krassere Ausmaße an Schlafmangel, psychischen wie physischen Belastungen, Gruppenkonflikten (zumal unter Männern) Hunger, Kälte, Durst und Einsamkeit wie in diesen Monaten. Heute dienen sie als nützlicher Backup bei ähnlichen Grenzerfahrungen, die jedoch selten an meine Militärzeit heranreichen, wie man denken kann.

Vom Nutzen alltäglicher Entbehrungen

Während Mandela im Gefängnis auf Robben Island zum Stoiker geworden ist, bietet die Armee ähnliche Möglichkeiten, wenn man sie denn richtig nutzt: Weibliche und jüngere Leser mögen jetzt denken: Die Bundeswehr ist nicht weniger weit weg und abstrakt wie Robben Island. Aber kein Problem: Robben Island ist überall: Wer ist nicht als Kind oder in seiner Jugend schon mal kilometerweit gelaufen, weil der den letzten Bus verpasst hat? Wer hat als Student nicht wochenlang von hartem Brot und Leitungswasser gelebt, weil das Geld ausgegangen ist? Wer hat sich in seiner Lehrzeit nicht von seinem Meister anbrüllen lassen oder vom Lehrer ungerecht benoten lassen?  All das lässt sich später nutzen: Als ganz reale Vorbehaltsklausel, bei der man genau weiß, wie man sich fühlt, wenn sie eintritt, und wie man darauf souverän reagiert.       


[1] Mann, Thomas: Buddenbrooks,  Kapitel 7, Abschnitt 7, Frankfurt 2009

[2] Vgl.: Seidensticker, Bernd: Über das Vergnügen an tragischen Gegenständen – Studien zum antiken Drama, München, Leipzig 2005, S. 385ff