Überforderung – was nun? Entschleunigen, Aussteigen, Entsagen?

Entschleunigung: Zeitlupe statt Zeitraffer

Wie im vorherigen Blogeintrage bereits angesprochen, nehmen Stress und Überforderung zu. Was kann man dem entgegensetzen? Um der Logik der Steigerung und Optimierung zu entkommen gibt es Trends zur bewussten Entschleunigung. Neben den Freizeitaktivitäten, die oft auf Optimierung und Leistung ausgerichtet sind, wie Sport und Fortbildungen, kommen altmodisch anmutende Hobbies und Handarbeiten wieder in Mode. Anstatt für den nächsten Marathon oder den Waschbrettbauch zu trainieren, beginnt man wieder zu stricken, basteln, im Garten zu arbeiten.

Tätigkeiten, die wir bis vor Kurzem eher mit unseren Großeltern in Verbindung gebracht haben, liegen zusehends im Trend. Es sind Dinge, bei denen man sich entspannen kann,  die bewusst langsam ausgeführt werden, denn man will sich darin spüren und darin aufgehen. Klar kann ein Kaffeevollautomat auf Knopfdruck Kaffee brühen, aber die Bohnen mit der Hand mahlen, die Siebträgermaschine gründlich einstellen und reinigen oder in Zeitlupe Filterkaffee aufgießen entspannt und lässt die Welt um einen herum vergessen. Genau das anachronistische und ineffiziente daran stellt den Gegenentwurf  zum vielfach wahrgenommenen Druck zur Steigerung und Optimierung dar.

Man begeistert sich auch zusehends für das beschauliche, idyllische Landleben, das als Gegenprogramm schlechthin für das hektische, stressige Stadtleben gesehen wird. Die Zeitschrift “Landlust”, in der das Landleben portraitiert, Koch- und Dekorationstipps gegeben werden, erreicht eine verkaufte Auflage von mehr als einer Million Exemplaren.

Vorsicht Weltflucht

Julia Friedrichs sieht in ihrem Artikel “Entschleunigung. Die Welt ist mir zu viel.”1 den Trend des zunehmenden Ausblendens und Abwendens von der Realität kritisch. Problematisch werde es, wenn aus Ablenkung Weltflucht und Realitätsverweigerung entstehen. Gerade auch das bewusste Ausblenden der als hart und unschön empfundenen Realität, um das eigene Gemüt zu schonen, hält die Autorin für unverantwortlich. Am Ende hole einen ja doch wieder die Realität ein und außerdem habe man eine Verantwortung sich an der Lösung gesellschaftlicher Probleme zu beteiligen und dürfe sich nicht in seiner Parallelwelt davor verstecken.

Neben diesen kleineren alltäglichen Weltfluchten wie Häkeln und Arbeiten im Schrebergarten, gibt es auch mehr radikale Ausstiege bis hin zur Verweigerung am bisherigen Leben teilzunehmen.2 Fraglich ist, ob ein derart radikaler Schritt die hohen Erwartungen erfüllt. Auch der ehemalige Banker, der eine Surfschule in Südamerika betreibt, steht vor Alltagsproblemen in seinem neuen Leben.

Going nowhere … isn’t about turning your back on the world; it’s about stepping away now and then so that you can see the world more clearly and love it more deeply. (Iyer, 2014: 13)

Nowhere

Foto: Eduard Szekeres

Entsagen, Beschränken, Verzichten

Die freiwillige Beschränkung kann als eine Reaktion auf das Problem mit dem Umgang mit den als erdrückend empfundenen Vielzahl an Optionen, die das moderne Leben bereithält, gesehen werden. Wer nur zwei Paar Hosen und T-Shirts besitzt, muss morgens nicht lange überlegen, was er anziehen soll. Aber die Problematik des Auswählens aus zu vielen Möglichkeiten wird dadurch nicht beseitigt. Wie wenig ist genug? Sieben, fünf, drei, zwei Hosen? Nur wer radikal verzichtet und, wie die Kyniker im antiken Griechenland, in völliger Armut nur mit der Kleidung, die er trägt und wortwörtlich einer Hand voll Dinge lebt, kann in den Genuss der völligen Optionslosigkeit gelangen.

Kritisch zu sehen sind Entsagen und bewusster Verzicht, wenn daraus Selbstdarstellung wird3. Wenn man sich abgrenzt und von der Masse abheben will, indem man, obwohl man es sich leisten könnte, auf das neueste Smartphone verzichtet und ein altes Nokia ersteigert, dann ist die Außenwirkung der eigentliche Antrieb. Bescheidenheit und Mäßigung sind Tugenden, nicht jedoch die Selbstinszenierung, wenn man sich als gut situierter Bürger damit brüstet “nur” ein Butterbrot  zu essen. Insbesondere wenn andere Menschen sich mit einem Butterbrot begnügen müssen, da sie sich nicht mehr leisten können.

Ausstieg light: ein Ausflug nach “Nowhere”

An dieser Stelle möchte ich eine einfache und schöne Möglichkeit vorstellen, um sich der Hektik und Beschleunigung zu entziehen. In seinem Buch “The Art of Stillness. Adventures in going Nowhere.”4 entwickelt Pico Iyer das Konzept von “Nowhere”. Dieses „Nirgendwo“ ist ein Rückzugsort, an den wir gehen können, um einen Schritt zurückzutreten und unser Leben in Ruhe betrachten zu können. Dieser Ort kann eine Parkbank, ein Sessel im Wohnzimmer, ein Ausflug in den Wald oder etwas anderes sein. Entscheidend ist, dass wir in Ruhe mit uns selbst sein können. Pico Iyer geht, in Anlehnung an die Philosophie der Stoiker, davon aus, dass wir unseren Seelenfrieden nur in uns selbst finden können. Um ihm näher zu kommen brauchen wir keine Reisen, keine Hobbies und keine Apps. Es hilft schon, wenn wir einfach für einige Minuten still sitzen.

You can go on vacation to Paris or Hawaii or New Orleans three months from now, and you’ll have a tremendous time, I’m sure. But if you want to come back feeling new – alive and full of fresh hope and in love with the world – I think the place to visit may be Nowhere. (Iyer 2014: 65)

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1http://www.zeit.de/zeit-magazin/2015/01/entschleunigung-biedermeier-handarbeit-stressabbau

2http://www.spiegel.de/karriere/berufsstart/karriere-verweigerer-alix-fassmann-schmeisst-ihren-job-a-1014164.html

3http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/modedroge-entsagen-lebenslaenglich-aschermittwoch-13442212.html

4Iyer, Pico 2014: The Art of Stillness. Adventures in going Nowhere. New York: TEDBooks.