Die Grenzen unserer Lebensphilosophie: Warum uns das Überangebot überfordert und unglücklich macht

Wir verfügen über mehr Einkommen und freie Zeit als unsere Eltern und Großeltern, wir können schneller kommunizieren, weiter verreisen und immer mehr in kürzerer Zeit erledigen. Wir sind aber nicht glücklicher als die Generationen vor uns. Die sog. Y-Generation ist sogar unglücklicher, da das Überangebot an Lebenszielen und Lebenswegen sie überfordert.

Beschleunigung im Beruf: mehr Arbeit und mehr Konkurrenz

Überforderung und Erschöpfung scheinen um sich zu greifen. Wer derart emotional erschöpft ist, dass er dadurch unfähig geworden ist die Anforderungen seines Lebens zu bewältigen, dem wird ein sog. “Burnout” attestiert- und das passiert immer häufiger. Unabhängig vom tatsächlichen Ausmaß der Verbreitung des “Burnouts” zeigt die anhaltende Popularität dieses Themas, dass damit ein Nerv getroffen wurde. Es scheint, als würden immer mehr dem Druck ihres Lebens nicht mehr standhalten. Woran liegt das? Zum Einen am Arbeitsleben: Konkurrenz, Wettbewerb und Innovation führen dazu, dass das Arbeitsleben immer dichter wird. Mehr und komplexere Aufgaben müssen in immer kürzerer Zeit bewältigt werden. Doch neben dem härteren Wettkampf und der gestiegenen Angst vor Jobverlust und sozialem Abstieg sowie immer mehr Flexibilität, die einem abverlangt wird, ist es ein anderes Phänomen, dass den Druck auf den Einzelnen spürbar erhöht: Die Beschleunigung greift zusehends auf das Private über.

Beschleunigung im Privaten: neue Kommunikationsformen und das Überangebot an Möglichkeiten

Die Beschleunigung im Privaten liegt einerseits an den neuen Formen der Kommunikation, die uns ständig erreichbar machen und uns erlauben immer zeitnaher zu kommunizieren. Eine E-Mail ist schneller geschrieben als ein Brief, aber die gewonnene Zeit ist schnell wieder weg. Haben wir früher einen Brief pro Woche geschrieben, so schreiben wir jetzt 50 E-Mails und Kurznachrichten pro Tag. Die Menge an Nachrichten, die uns erreichen und die unserer Aufmerksamkeit bedürfen nimmt zu. Natürlich erwartet jeder, der uns schreibt, eine Antwort. Diese Erwartungshaltung setzt uns wiederum unter Druck. Eine andere Form der Beschleunigung erfahren wir in unseren Freizeitaktivitäten. Das Angebot an Optionen unsere Zeit zu verbringen wird immer größer. Nicht nur weil es immer mehr Optionen gibt, sondern auch weil wir mehr davon wahrnehmen können.¹

Die Grenzen unserer Lebensphilosophie

Welche der vielen Optionen sind die richtigen für mich? Welche sind meine kurzfristigen und  welche meine langfristigen Lebensziele? Auf die Frage nach Lebenszielen werden meist Dinge wie Erfolg, Gesundheit, Glück, Selbstverwirklichung und Familie genannt. Konkretere Dinge können auch ein schöner Urlaub, die nächste Beförderung oder das Bestehen der nächsten Klausur sein. Unabhängig von den einzelnen Zielen eint uns jedoch fast alle das Bestreben möglichst viele schöne Momente und Erlebnisse in unserer Lebenszeit zu haben. Wie kann ich mit den Ressourcen, die mir zur Verfügung stehen, ein Maximum an Glück im Leben erreichen? Dies könnte man als unsere Lebensphilosophie bezeichnen. Eine Lebensphilosophie benennt ein großes, übergeordnetes Lebensziel und gibt an, wie man dieses erreichen kann. William B. Irvine nennt die oben beschriebene und verbreitete Lebensphilosophie einen aufgeklärten Hedonismus².

Im Gegensatz zu einem unaufgeklärten Hedonismus, bei dem der Fokus auf dem maximalen Konsum im Hier und Jetzt liegt, wägen wir im aufgeklärten Hedonismus ab. Wir ersinnen Strategien, wie wir unsere Ziele erreichen, wir sondieren, welche Ziele welchen Nutzen und welche Kosten verursachen und versuchen ein Optimum zu finden. Wir studieren, wir gehen arbeiten, stehen jeden Tag um 7 Uhr auf, um uns den Urlaub leisten zu können, um uns einen großen Kombi und ein Haus kaufen zu können… Der aufgeklärte Hedonismus stößt in einer Gesellschaft mit immer mehr Möglichkeiten zunehmend an seine Grenzen. Es gibt immer mehr Ziele und immer mehr Möglichkeiten diese zu erreichen. Wer das Maximum aus allem rausholen will, muss alle Optionen kennen und sie auch ständig auf ihren Nutzen hin bewerten. Aber wer kann immer genau sagen was er will und wie sehr er es will? Genau dieses Problem wächst mit der steigenden Anzahl an Möglichkeiten in allen Lebensbereichen.

Beschleunigung + Hedonismus = Überforderung

Dass man viele Möglichkeiten hat, klingt doch eigentlich ganz gut. Ist es auch. Aber ab einem gewissen Punkt kann es zur Belastung werden. Dies kann sich schon an banalen Dingen zeigen. Dass man zwischen fünf Sorten Erdbeerjogurt wählen kann, anstatt zwei Sorten ist noch angenehm, aber wenn ich mich zwischen 28 Sorten Erdbeerjoghurt entscheiden muss, bin ich überfordert. Und je größer der Supermarkt des Lebens, desto problematischer: was wenn ich Joghurt mag, aber nicht weiß, ob ich mich heute zwischen den 28 Sorten Erdbeerjoghurt oder den 34 Sorten Bananenjoghurt entscheiden soll. Genau so im Leben, beispielsweise wenn es um Partnerschaft geht: Alles ist denkbar. Will ich eine Familie und wenn ja wann? Mit wem? Ist mein Partner der richtige? Soll ich noch weiter suchen oder mich überhaupt nicht binden? Oder soll ich die Beziehung aufgeben und den Job im Ausland annehmen- eine so tolle Gelegenheit kriege ich vielleicht nie wieder…. Bei diesen Fragen herrscht immer mehr Unsicherheit. Jedes Festlegen ist mit einem Verzicht verbunden und niemand möchte verzichten. Das große Problem bei der gestiegenen Anzahl an Optionen ist die Tatsache, dass wir immer mehr verpassen. Jede Entscheidung für etwas oder jemanden ist eine Entscheidung gegen die anderen Möglichkeiten, die man hat oder glaubt zu haben.

Erdbeerjoghurt

Foto: Eduard Szekeres

Doch nicht nur die Angst, den einen zu verpassen, wenn man sich zu dem oder der anderen mal so richtig bekennt, bremst den Bindungswillen, auch der explizite Wunsch nach Selbstverwirklichung stellt sich, gerade bei der Generation um die dreißig, dem bekennenden Pärchendasein entgegen.³

So viele Möglichkeiten, so viele Entscheidungen und keiner kann sie uns abnehmen. Wie man mit Beschleunigung und Überforderung umgehen kann, soll in den nächsten Blog Beiträgen behandelt werden.

 

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²Irivine, William B., 2009: A Guide to the Good Life. The Ancient Art of Stoic Joy. New York: Oxford University Press.